- Wirtschaftsnobelpreis 1992: Gary Stanley Becker
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Der amerikanische Ökonom erhielt den Nobelpreis für »die Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf den weiten Bereich menschlichen Verhaltens«.Gary Stanley Becker, * Pottsville (Pennsylvania) 2. 12. 1930; Studium der Volkswirtschaftslehre an der Princeton University in New Jersey und der University of Chicago, ab 1957 Lehrtätigkeit an der Columbia University in New York, ab 1960 als Professor, seit 1970 Professor an der University of Chicago, seit 1983 auch im Fach Soziologie.Würdigung der preisgekrönten LeistungAls Gary Stanley Becker 1992 den Nobelpreis erhielt, wurde einer der meist zitierten, originellsten und oft belächelten Denker der ökonomischen Profession geehrt. Seine konsequente Anwendung ökonomischer Thesen auf menschliches Verhalten trägt ihm von verwandten Fächern bis heute den Vorwurf ein, einem »ökonomischen Imperialismus« den Weg zu bereiten, der alle Lebensbereiche dem kühl kalkulierenden Diktat ökonomischer Ratio unterwirft.Dem hält Becker entgegen, dass es sich bei »Economics« primär um eine Methode handelt. Mit ihr kann rationales Individualverhalten unter Nebenbedingungen analysiert werden. Das unterstellte Ziel der individuellen Nutzenmaximierung benötigt keine Vorgabe von Werturteilen oder Motivationen. Die Argumente der individuellen Nutzenfunktion sind demnach bewusst offen gehalten und machen »Economics« zur universell anwendbaren Methode.Humankapital, rationale Illegalität und die Ökonomie bei familiären EntscheidungenIn seinem 1964 erschienenen Buch »Human Capital« (englisch; Humankapital) widmet sich Becker der Frage, wie sich das Maximierungskalkül bei der Bildung individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten darstellt. Die Individuen unternehmen einen umfassenden und permanenten Vergleich der Investitionsrenditen von Ausbildung, marktmäßiger Arbeit und Konsum unter Berücksichtigung knapper Zeit. Auch Ausbildung ist Teil des Maximierungsverhaltens. So wird eine Hochschule besucht, wenn deren Abschluss eine höhere Rendite im Vergleich zu alternativen Handlungen erwarten lässt. Beckers formale Arbeiten haben diesen Forschungsbereich einer empirischen Abschätzung zugänglich gemacht. Die Bedeutung seiner Überlegungen wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass gerade in einer modernen und auf Wissen basierenden Informationsgesellschaft das Humankapital die entscheidende Wachstumsvariable darstellt.Im Jahr 1968 erscheint im »Journal of Political Economy« Beckers Aufsatz »Crime and Punishment« (englisch; Verbrechen und Bestrafung). Den Grundgedanken seiner Thesen bekam er zufällig vermittelt. Auf einer Fahrt zur Vorlesung war er so spät dran, dass er seinen Wagen im Parkverbot abstellen musste, um noch pünktlich beginnen zu können. Seine Entscheidung entsprach exakt dem von ihm propagierten rationalen Maximierungskalkül. Er überschlug die Kosten für Falschparken, die Wahrscheinlichkeit, dabei ertappt zu werden, und die Kosten für korrektes Parken in Form des Zeitverlusts. Er entschied sich bewusst für Falschparken (und wurde nicht ertappt). Erneut geht Becker unkonventionelle Wege, um dieses menschliche Verhalten zu erklären. Bis zum Zeitpunkt seines Aufsatzes wurden einzelne, meist soziologische Determinanten für Gesetzesbrüche quasi enumerativ aufgelistet. Dagegen sieht Becker auch Illegalitäten durch rationales Abwägen von Alternativen bestimmt. Nach seinen Thesen vergleichen die Individuen Nutzen (Beute) und Kosten (Strafmaß) ihrer kriminellen Handlungen. Spiegelbildliche Überlegungen stellen staatliche Behörden an. Wenn folglich hohe Kosten kriminelles Vorgehen unattraktiv machen, empfehlen sich nach Becker gezielt höhere Strafmaße zur Senkung der Kriminalität.Beckers Werk »Treatise on the Family« (englisch; Abhandlung zur Familie) aus dem Jahr 1981 war der Auslöser für eine bis heute andauernde moralisierende und hoch emotionale Diskussion. Becker behauptet, dass auch familiäre Entscheidungen zu Ehe, Kindern oder Wanderung einem ökonomisierenden Rationalkalkül unterliegen. Daraus lässt sich erstens ein Mikroaspekt ableiten. Die Familie stellt sich als Ort der Haushaltsproduktion mit materiellen Vorteilen dar. Im Familienverband werden Marktgüter unter Einsatz knapper Faktoren in Haushaltsgüter transferiert. Wie immer in seinen Arbeiten betont Becker auch hier die wichtige Verteilung zeitlicher Ressourcen. In gleicher Weise lassen sich Partnerschaften als Form der Arbeitsteilung verstehen. Zweitens erlauben Beckers Theorien zur Familie die Ableitung von Makroaspekten. Mit ihnen hat die moderne Bevölkerungsökonomie ihren Ursprung gefunden. Auch im größeren Rahmen findet eine nutzenmaximale Verteilung knapper Einsatzfaktoren auf verschiedene Investitionsobjekte statt. Auch Entscheidungen für oder gegen Kinder werden anhand ihrer Kosten (Zeit, finanzielle Mittel) und Nutzen getroffen. Damit kann Becker erklären, warum es bei steigendem Einkommen zu einem Rückgang der Geburtenraten kommt (negativer Einkommenseffekt der Fertilität). Sinkende Geburtenraten in den Industriestaaten resultieren aus einem hohen Einkommensniveau und einer funktionierenden staatlichen Alterssicherung. Hohe Geburtenraten in den Entwicklungsländern rühren dagegen aus dem Umstand, dass Kindern unter den dortigen Rahmenbedingungen die einer Versicherung ähnelnde Aufgabe der Altersvorsorge zukommt.In einem 1983 erschienenen Aufsatz beschäftigt sich Becker mit dem Wettbewerb zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Die Theorie der Interessengruppen propagiert sich verfestigende Umverteilungsvorteile zugunsten durchsetzungsstarker Gruppen. Dagegen kommt Becker zu dem Schluss, dass die Gewährung staatlicher Privilegien für eine Gruppe konterkarierende Gegenhandlungen der belasteten Gruppen auslöst. Verfestigungen sind demnach stets durch kompetitive Marktdynamik bedroht, soweit sich die Marktkräfte frei zu entfalten vermögen. Die entstandenen Bewegungen zum Umwelt- und Verbraucherschutz gegen etablierte Produzenteninteressen können damit erklärt werden. Auch auf dem Markt für staatliche Umverteilungsvorteile sind demnach marktendogene Korrekturmechanismen wirksam. Wettbewerbliche Strukturen setzen hinreichende Anreize zu sozialer Effizienz.Becker hat mit der Vielfalt seiner Arbeiten den Universalismus der Methode ökonomischer Theorie belegt. Die Anwendung von Rationalverhalten und Maximierungskalkül auf menschliches Verhalten hat die Tür zu gänzlich neuen Fachgebieten aufgestoßen. Als zentrale Erkenntnis vermittelt er, dass Menschen Vernunftkriterien folgen, auf Anreize reagieren und sich an Rahmenbedingungen anpassen. Funktionierende Märkte lösen Anpassungsreaktionen aus und sind so zur endogenen Selbstkorrektur fähig. Insoweit steht Gary Stanley Becker ganz in der Denktradition der Chicagoer Schule: kompetitive Märkte funktionieren — auch im weitesten Sinn.K.-U. May
Universal-Lexikon. 2012.